Bericht Wiesbadener Tagblatt vom 09.01.2006
Soziale Stadt gibt´s nicht für Euros
Beim Biebricher Neujahrsempfang appelliert OB Diehl an das Gemeinschaftsgefühl
Von Heinz-Jürgen Hauzel
Der größte Stadtteil, der prachtvollste Neujahrsempfang. Seit 1983 lädt die Arbeitsgemeinschaft Biebricher Vereine und Verbände, der 114 Institutionen angeschlossen sind, zu Beginn eines neuen Jahres in die Schloss-Rotunde.
“Wir müssen den nassauischen Fürsten und Herzögen heute noch dankbar sein”, pries der AG-Vorsitzende Günter Noerpel den Park und den Prachtbau, den er dann doch etwas despektierlich als “Biebrichs guud Stubb” bezeichnete.
Nicht das Schloss indes, das bürgerliche Engagement seiner Einwohner in einer schwierigen Stadtteil-Struktur ist der ganze Stolz der Biebricher. Noerpel zählte einige Beispiele ehrenamtlichen Wirkens aus den vergangenen zwölf Monaten auf, um schließlich festzustellen: “Das alles zeigt, dass Gemeinsinn nichts kostet – nur guten Willen. Sie alle haben dazu beigetragen, dass unser soziale Friede hier erhalten blieb.” Ortsvorsteher Kuno Hahn knüpfte nahtlos an, als er den Dank an die Vereinsvertreter mit dem Satz beendete: “Wenn´s Ihnen und Ihren Vereinen gut geht, geht´s unserem Stadtteil gut.”
Oberbürgermeister Hildebrand Diehl erwähnte die 3,8 Millionen Euro, die in das Projekt “Soziale Stadt” investiert wurden. “Doch eine Soziale Stadt lässt sich auch mit noch so viel Geld nicht erreichen. Eine Stadt wird umso sozialer, je mehr Menschen sich verantwortlich fühlen. Es ist unsere Aufgabe, den Menschen zu vermitteln, dass es nur funktioniert, wenn alle mittun. Wir können die Rahmenbedingungen schaffen. Aber ausfüllen müssen Sie diesen Rahmen”, rief der Oberbürgermeister in die knallvolle Rotunde. Ohne dieses Engagement, wie es hier vorgelebt werde, sei das “ein Stück seelenlose Gesellschaft”. Die Zukunft entscheide sich daran, “ob es uns gelingt, die Menschen in die soziale Verantwortung zu bringen – über die eigene Familie hinaus.”
In Biebrich haben sie trotz allem natürlich auch Sorgen, die vornehmlich Kuno Hahn formulierte. Die Geschäftsleerstände, gerade aber die Form der Wiedervermietung stößt auf seine Kritik: “Wettbüros oder Spielotheken sind nicht das, was wir Biebricher brauchen.” Es sei die Frage, ob es rechtlich zulässig ist, wenn die Mehrzahl der Geschäfte die Möglichkeit zum Glückksspiel bieten. “Da kommt viel Arbeit auf uns zu, und auch die Stadt ist gefordert, uns unter die Arme zu greifen,. um eine lebendige Einkaufsstadt zu erhalten, die vielseitig ausgerichtet ist.” Nicht förderlich sei auch, wenn Institutionen das Biebricher Zentrum verlassen – wie jetzt die AOK. “Überhaupt kein Verständnis hätten wir, wenn die Gerüchte stimmen, dass das Sozialamt aus unserem Rathaus auszieht.”
Eine Sorge sind die Biebricher indes los. Günter Noerpel hatte “unseren Bürgermeister” Hans Groth förmlich angefleht, er möge lange noch der Leiter der Verwaltungsstelle bleiben. Er wird nicht wechseln, versicherte der anschließend: “Vor fünf Jahren hätte es mich vielleicht gereizt, das Sportamt zu übernehmen. Jetzt aber ist die Sache für mich entschieden. Ich bleibe in Biebrich.”
Wenn die Ehrenamtlichen schon so wortreich gewürdigt werden, wie es gestern im Biebricher Schloss geschehen ist, dürfen selbstverständlich Ehrungen nicht fehlen. Die Arbeitsgemeinschaft und der Ortsbeirat verliehen die höchsten Auszeichnungen, die sie zu vergeben haben. Das Biebricher Wappen ging erstmals an eine Fastnachtskorporation: Die “Fildele Elf”, ein Aktivposten der Arbeitsgemeinschaft, besteht seit 50 Jahren.
Der Ehrenteller wurde in diesem Jahr gleich an zwei verdiente Biebricher verliehen. Horst Schlosser hat lange Jahre als Vorsitzender der VdK-Ortsgruppe ehrenamtlich Sozialarbeit geleistet und sich dabei um fast 700 Mitglieder gekümmert. Laudator Dieter Löber, der zweite AG-Vorsitzende, würdigte ihn mit einem Zitat der Schlosser-Lebensgefährtin Liselotte Bünder: “Er liebt es, Menschen zu helfen und sie intensiv zu betreuen.”
Der frühere Bauunternehmer Reiner Winkler erhielt den Ehrenteller für sein “journalistisches Wirken”, wie Kuno Hahn betonte. Winkler habe viel getan, das Wissen um und das Verständnis für Biebrich zu mehren. Sein Geschichtsbuch sei überaus spannend zu lesen, weil es die Tagesereignisse aufführt. “Geschichte ist schließlich nicht nur, was die Großen vollbracht oder verbrochen haben, sondern auch, was die Kleinen erduldet und erlitten haben.” Hahn vergaß nicht zu erwähnen, was den Herausgeber besonders auszeichnet: “Er hat die Druckkosten gezahlt – und den Verkaufserlös an den Turnverein sowie an den Verkehrs- und Verschönerungsverein gespendet.”
Dass die Biebricher Vereine mit ihren Problemen umzugehen verstehen, demonstrierte die Singgemeinschaft, zu der sich der Männergesangsverein Rheingold, das Männerquartett Nordend und der Kallesche Gesangsverein aus der Not heraus zusammengeschlossen haben. Gemeinsam haben sie unter der Leitung von Ernst A. Vogt den Neujahrsempfang stimmgewaltig umrahmt. Das Publikum dankte mit Bravos. Für Klaus-Dieter Herrmann stand fest: “Die sind besser als die Hofsänger.”